KRITIK: CHERNOBYL

© Sky / HBO
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Autor: Michael Scharsig

In der Ferne ein dumpfes Grollen, wenige Sekunden später zerbarsten die Fenster eurer Zimmer. In der gesamten Stadt erklingen Sirenen und ihr seht eure Nachbarn auf die Straße laufen. Nachrichten, Politiker, die ortsansässigen Sicherheitskräfte und Polizisten erklären euch, dass alles unter Kontrolle sei – ohne eigentlich zu erklären was überhaupt geschehen ist. Wenige Monate später sind drei eurer Nachbarn tot. Zwei eurer Familienmitglieder haben Krebs, eure Frau erleidet eine Fehlgeburt. Ihr selbst liegt auf der Intensivstation und leidet unter Schmerzen, die die Ärzte nicht kontrollieren können. Lösen diese Zeilen Unbehagen bei euch aus? Willkommen in der Welt von HBO’s „Chernobyl“.

Die 5-teilige Miniserie macht seit Wochen Schlagzeilen und wird als beste Serie aller Zeiten in einem Hauch mit „Breaking Bad“, „Twin Peaks“ oder „Game of Thrones“ genannt. Und ohne um den großen Brei herum zu reden: Sie ist es. Sie ist nicht sarkastisch, nicht lustig, nicht zynisch, nicht actionreich, nicht gruselig, nicht mysteriös, nicht tiefsinnig. Sie ist echt. Jedenfalls fühlt sie sich genauso an. Sie fühlt sich an, wie ein grausamer Unfall, bei dem man nicht weggucken kann. Wie eine Gerichtsverhandlung, bei der Vergewaltiger freigesprochen wird. Wie eine Hand, die einem entgleitet und ein Begräbnis, dass man niemals erleben wollte. Und genau DAS macht dieses Biest so verdammt gut.

 

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„Chernobyl“ ist kein reines Katastrophen-Entertainment. Die Explosion und die wenigen Stunden davor und danach, sind nur ein kleiner Teil der gesamten Geschichte. Was fassungslos macht sind die Ursachen, die Hintergründe, die Ungerechtigkeiten und Machtlosigkeiten. Das erbarmungslose Spiel mit der Authentizität. Das alles könnte ebenso gut als Dokumentation funktionieren, pathetische oder erzwungen emotionale Momente gibt es nur ganz selten. Dafür aber tieftraurige Einblicke in menschliches Versagen, dass uns beinahe Europa gekostet hätte. Viele Figuren möchte man einfach nur warnen, während man den Schuldigen pausenlos aufs Maul hauen könnte.

Vor allem Jared Harris und Stellan Skarsgaard harmonieren als Duo nahezu perfekt – auch wenn es vor dem Hintergrund „Chernobyl“ etwas zynisch klingt, von Chemie zwischen den beiden zu sprechen. Jared Harris begeisterte bereits in der völlig zu Unrecht unterschätzten Survival-Horror-Historien Serie „The Terror“. Was er aber als Atomphysiker und Wissenschaftler Waleri Alexejewitsch Legassow abliefert, darf durchaus als Lebenswerk und Karrierehöhepunkt gefeiert werden. Da gibt es diese großen Momente, in denen er anhand weniger Plättchen einem gesamten Komitee die Funktion eines Kernreaktors brillant simpel erklärt. Oder aber diese vielen kleinen Augenblicke, in denen seine bloße Gestik und Mimik so viel Gefühle, Geschichte und innere Zerrissenheit darlegen.

 

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Skarsgaard muss sich als sowjetischer Politiker und Bürokrat Boris Jewdokimowitsch Schtscherbina zu keiner Minute hinter Harris verstecken. Zu Teilen empfinde ich sein Handeln und seine Reaktionen sogar deutlich menschlicher, wenn auch dadurch weniger pragmatisch und fehlerhaft. Beide Figuren verbindet ein gemeinsames Schicksal. Wie sich dadurch die Beziehung dieser beiden grundverschiedenen Männer innerhalb einer kurzen Zeitspanne entwickelt, hat mich bewegt. Erwähnen möchte ich außerdem noch, dass den Machern mit Emily Watsons Rolle ein cleverer Kniff gelungen ist, der dafür sorgt, dass sich die Serie auf wenige Figuren konzentriert und die Storyline nicht ausufert.

Keine Frage, „Chernobyl“ lebt von der Dramatik seiner Geschichte, unterstützt von Darstellern in Bestform und sicherlich auch von der weltweit gesteigerten Aufmerksamkeit für Umweltbewusstsein. Das alles würde trotzdem nicht zu 100% klappen, wenn nicht auch im technischen Bereich saubere Arbeit geleistet worden wäre. Hervorheben möchte ich hier die unglaublich talentierte Cellistin Hildur Guðnadóttir. Die Isländerin schaffte es schon bei „Sicario 2“, den leider viel zu früh verstorbenen Jóhann Jóhannsson ehrenwürdig mit einem tollen Score zu beerben. Doch was sie hier für „Chernobyl“ komponiert hat, passt praktisch in jeder Szene und untermalt dieses bedrohliche Szenario in Perfektion. Man darf auf ihren „Joker“ Score gespannt sein!

 

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Hinzu gesellt sich eine – sorry für die Formulierung – wunderschöne Kameraarbeit von Jacob Ihre, von dem wir in Zukunft hoffentlich mehr sehen werden. Seine Arbeit wandelt irgendwo zwischen Panoramas des Grauens, totehrlichen Close-Ups und fast schon Found-Footage-ähnlicher Hektik. Regisseur Johan Renck („The Walking Dead“, „Vikings“) hat hier mit seinem Team wirklich ganze Arbeit geleistet und ich will ehrlich sein: So ein Monster hätte ich von Autor Craig Mazin, der bis dato durch Drehbücher für „Scary Movie 3“, „The Huntsmen & The Ice Queen“ und „Hangover 3“ aufgefallen ist, nicht erwartet. Die grauen Farbfilter und teils von echten Aufnahmen adaptierten Szenen erledigen den Rest.

Unbedingt erwähnen möchte ich noch, dass mir außerordentlich gut gefällt, wie europäisch „Chernobyl“ ist. Ob unter den Darstellern, der Crew oder dem Produzententeam – die verschiedensten Nationen befinden sich darunter und ich habe irgendwie das Gefühl, dass das auch ein Grund dafür sein könnte, warum hier alles so authentisch vermittelt wurde. Während die Geschichte zwar von den erwähnten wenigen Figuren getragen wird, besitzt jede der fünf Episoden trotzdem einen eigenen Blickwinkel mit Fokus auf jeweils andere Nebenschauplätze – von Minenarbeitern, über Feuerwehrmännern, Kraftwerksarbeitern bis hin zu freiwilligen Armeeunterstützern und Zivilisten. Die Tragweite der Katastrophe wird so noch einmal verdeutlicht – und ebenfalls super geschauspielert, u.a. von Barry Keoghan, Jessie Buckley, Paul Ritter, Fares Fares, u.v.m.

Bleibt am Ende nur noch zu sagen, dass ich es abartig finde, wie respektlos Influencer und Sensationstouristen sich heutzutage vor den Geisterkulissen Chernobyls und Prypyats ablichten. Das erinnert stark an die charakterlosen Selfies in Auschwitz oder den jüdischen Gedenkstätten Berlins. Ein wenig mehr Feingefühl wäre hier angebracht und wer HBO’s Serie mit etwas Verstand verfolgt, der versteht auch warum.

 

Chernobyl - Bewertung

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