KRITIK: EL CAMINO: EIN „BREAKING BAD“-FILM

© Ben Rothstein / Netflix
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Autor: Michael Scharsig

Erinnert ihr euch an diese Szene in „Titanic“, wo der Zuschauer noch einmal Abschied von allen Figuren nimmt? Wo alles scheint, als sei nie etwas passiert? „El Camino“ ist so ein gegenseitiges Abklatschen und Schulterklopfen zwischen Zuschauern und Darstellern. Nur eben für Fans von „Breaking Bad“. Und in Spielfilmlänge. Aaron Paul aka Jesse Pinkman dreht eine letzte Runde, bis er schlussendlich die Ruhe zu finden scheint, die seine Anhänger ihm gewünscht haben.

Zum Inhalt: Joa…das ist dann auch schon der Inhalt. Aber für euch Racker versuche ich es jetzt nochmal auf ein paar Zeilen zu packen. Also: Nach dem Tod von Walter White und der Befreiung aus seiner Gefangenschaft, muss sich Jesse Pinkman irgendwie durchschlagen. Zwar sind ihm keine sadistischen Drogenkartelle mehr auf den Fersen, dafür aber das Gesetz. Der im Herzen gute und naive, aber eben auch stark belastete Ex-Junkie muss sich auf einem Weg in die Freiheit seiner Vergangenheit genauso stellen, wie einer völlig fremden Zukunft.

 

© Ben Rothstein / Netflix
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Klassentreffen auf Netflix

Es ist schon erstaunlich, wie leicht es Vince Gilligan gelingt, mich wieder in die Welt dieser vielleicht größten tragikomischen Serie der Welt zu entführen. Denn ganz ehrlich, dazu bedarf es schon mehr als nur das Gesicht von Aaron Paul wieder vor die Kamera zu stellen. Als wäre nie etwas gewesen, kehren diese unvergleichbar ironische Erzählweise und die bitterbösen Pointen zurück an die Front. Selbst optisch wirkt der Film so, als gäbe es einen „Breaking-Bad“-Farbfilter. So ziemlich jede Figur der Jesse auf seiner Flucht begegnet ist ein bekanntes Gesicht und die Darsteller scheinen problemlos wieder in ihre Rollen gefunden zu haben.

Keine Frage. Wer die Serie so sehr wie ich geliebt hat, den lässt es nicht unberührt, wenn plötzlich wieder Skinny Pete, Mike, Todd, Kenny & Co. auf dem Bildschirm erscheinen. Einige der Figuren bekommen wirklich schöne bzw. super geschriebene, längere Screentime geschenkt. Ganz ehrlich? Das ist Nostalgie-Bait pur, aber es funktioniert hier ganz gut. Jedenfalls bei mir. Was das über meine Ansprüche aussagt, ich weiß es nicht. Um die Frage aller Fragen nicht zu 100% zu spoilern, euch aber trotzdem einen kleinen Tipp zu geben: Zwei Figuren aus der Serie, auf die man hier vielleicht gehofft hat, kehren tatsächlich zurück. Aber auf ihre Art und Weise und ja, ich sagte „zwei“ Personen.

 

© Ben Rothstein / Netflix
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Wo ist das gute „Bad“ geblieben?

Nun kommt aber (huch, da ist es schon!) das große ABER. Während der „Breaking Bad“-Fanatic sein ganz eigenes „Jurassic World“ durchlebt, Tränen verdrücken darf und mit Nostalgie erschlagen wird, ist leider nicht zu übersehen, dass auch nicht viel mehr kommt. „Breaking Bad“ wurde meiner Meinung nach deshalb ein solcher Megaerfolg, weil neue Pfade betreten wurden. Weil praktisch jede Folge einen Aha- oder Wtf-Moment auf Lager hatte. Immer passiere etwas Unerwartetes, Tragikomisches oder Bitterböses. Und DAS ist hier leider nicht der Fall. Zu keiner Zeit. Während die Serie den Suchtfaktor in Unermessliche hob, scheitert der kleine Filmbruder daran mehr als kläglich. Ich sprach zwar eben von Pointen, diese tauchen allerdings sehr gering auf und wenn, dann in Flashbacks.

Und ich hasse mich selbst dafür, muss es aber in dieser Deutlichkeit sagen. Eine wirkliche Spannung – sehen wir mal von ein, zwei kürzeren Szenen ab, existiert hier einfach nicht. Insgesamt wirkt „El Camino“ wie eine verlängerte Folge der Serie, ein Epilog nur für Pinkman. Ein Abgesang. Das ist stilistisch gar nicht schlecht. Für einen durchweg spannenden Thriller reicht das aber mal so überhaupt nicht. Das wirkt beinahe so, als würden wir hier eine Uncut-Version der letzten Staffel zu sehen bekommen. Todd (Jesse Plemons) und sein völlig verschwurbeltes Selbstverständnis von Leben und Leben lassen ist für mich persönlich hier noch das Highlight. Zusammen mit einem ganz bestimmten Dialog in einem Diner und einer etwas anderen Verhandlung zwischen Jesse und Ed, gespielt von Robert Forster, der am Tag der Premiere von „El Camino“ seinen Kampf gegen den Hirntumor im Alter von 78 Jahren verlor. Ganz ohne Tragik und Ironie kann „Breaking Bad“ also doch nicht. Nur leider in diesem Fall auf sehr traurige und realistische Weise. Rest in Peace.

 

El Camino - Bewertung

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